Heidelberg, 21.2.2007

Dr. Günter Dietz
Hermann-Löns-Weg 36 a
69118 Heidelberg

Lieber Hannes Anderer,
ich habe Ihren autobiografischen Roman sogleich verschlungen, komme aber erst heute dazu (weil inzwischen mein Vortrag in Stuttgart über Jannis Ritsos über die Bühne ging), Ihnen wenigstens kurz zu schreiben. Es haben sich bei meiner Lektüre so viele und verschiedenartige Emotionen und Gedanken eingestellt, daß ich mich nicht imstande sehe, dies in toto und geordnet niederzu- schreiben. Ihren drei ICHS schlossen sich meine beiden Leser-ICHs an:

- der Zeitgenosse (geb. 1930) mit ähnlichen und wieder ganz anderen Erlebnissen und

- der Philologe, der alles genau liest und es in seinem sachlichen Inhalt und als "Kunstwerk" wertet (ja, es ist ein solches -).[...]

Man erlebt und erkennt mit dem Ich-Erzähler (in unterschiedlichen Intensitäts- höhen) mit, wie (oft auch unmerklich) leidvoll und grausam, heimlich beglückend und hinterhältig das Leben sein kann und muß, bis der Weg ein wenig ins Offenere und ins freiere Licht führt. Sie haben Ihren Weg gefunden, indem Sie in entscheidenden Momenten in tiefster Verwurzelung an die zu entfachende Essenz des Lebens glaubten, die Sie zu immer bewußterem Ausdruck Ihres eigenen Selbst trieb (und Sie auch so reich und präzis träumen ließ). Und so macht Ihr Roman dem Leser auch viel Mut - gerade auch durch die bekenntnishafte und in Höhepunkten: szenische Enthüllung eigener intimer Erlebnisse, Gefühle und Gedanken, die liebevoll eingebaut werden und den wohlwollenden Blick von außen zulassen und allmählich zu einer inneren Instanz machen.

Um es auch anders zu sagen: Alles im Zeitstrom Erlebte ist in seiner Damaligkeit vom empathisch teilnehmenden ICH sachlich und emotional überzeugend und spannend (mit Rück- und Vorgriffen) erzählt. Es ist vom zurück und hinein reflektierenden Erzähler genau in dem Maße fiktional ausgestaltet und stilisiert, daß die Emotion und die spirituelle Wertigkeit insgesamt stimmen und sich so daraus ein eigener kontinuierlicher Mythos des eigenen Lebens aufbaut (Sie halten ihn zwar an der Kandarre, aber der mitreflektierende Leser rundet mit seiner Phantasie das Erzählte immer ungezähmter in einem universaleren Sinnzusammenhang des Lebens ab). Man wünscht sich also unbedingt eine Fortsetzung dieses autobiografischen "Entwicklungsromans", die dann auch für Sie eine Hinausschiebung der "Galgenfrist" bedeuten würde. Zu gern würde man es als Leser noch erfahren, wie Sie den nächsten Lebensabschnitt "unterwegs zu Melusine" meisterten, wie Sie es z.B. angeblich auch später (trotz Studium, Beruf, Familie) nicht geschafft haben sollten, davon loszukommen, im Körper und im Bewußtsein dem Kreuz verhaftet" zu sein (S. 319). Das "Gnadenbrot" des Pensionärs scheint dem geneigten Leser (der die plötzlich auftauchende Beschwörung Epikurs für eine Beschwichtigung des Gewissens hält) durchaus nicht ein überflüssiger Luxus des Schicksals zu sein, sondern die unabdingbare Schicksalsvoraussetzung dafür, daß Sie Ihr intensives kreatives Tun bis zu einem schöpferischen Ende (von Ihrem eige- nen Höheren Selbst gewiß so gewollt!) fortsetzen können. [...]

Herzliche Grüße von "Unterwegs" - gez. Ihr Günter Dietz



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