Heidelberg, 12.2.2008

Dr. Günter Dietz
Hermann-Löns-Weg 36 a
69118 Heidelberg

Lieber Hannes Anderer,
wie den ersten Band habe ich auch den zweiten sogleich verschlungen und jede Szene genossen, die Charaktere der Figuren und ihre Entwicklung, die einprägsamen Schilderungen der Gesellschaft und der Ereignisse, der sozialen Milieus und des Zeitgeistes, die Bewegtheiten in den damaligen Freundschaftsbeziehungen oder auch die Offenbarungen der verschiedenartigen Lektüren, Filme und Theateraufführungen, die allein schon zeigen, wes Geistes Kind der Erzähler ist. Großartig präzise die Inhaltsangaben und Kurzinterpretationen, die bei mir eigene Erlebnisse aufrührten. Vor allem ließ ich mich natürlich auch wie der Erzähler von Herzen gern und auf hohem Niveau von der universalen Erotikerin, Nymphe und "Melusine" HeloTse verführen und konnte am Ende den Nervenzusammenbruch Abelards nur zu gut nachempfinden.

Weitere zusanmmenfassende Gedanken im Blick auf eine Gesamtwürdigung schließen sich für mich an:

Der Erzähler, das andere Ich des Autors, beginnt die Befreiungsphase seines Lebens 1954 in der (ihm vom Vater fürs Studium zudiktierten) katholischen Universitätsstadt Löwen, nachdem er die restriktive Atmosphäre seines Elternhauses und Heimatorts mit dem Gefühl von „Hass, Widerwillen, Verbitterung" verlassen hatte. Der Leser des ersten Romanbandes „Unterwegs zu Melusine" erwartet, daß der Emanzipationsweg des Icherzählers nunmehr im zweiten Band zur „Begegnung mit Melusine" führen wird. Er führt tatsächlich zu einer (im Sinne dieser archetypischen Märchengestalt) traumhaften Vollendungsform des Einsseins mit dem Leben, die freilich in melusinischer Schicksalshaftigkeit wieder verloren gehen muss. Die spirituelle Aufgabe fürs Leben hat sich das höhere Selbst des Icherzählers sehr hoch angesetzt. Es sucht und findet immer wieder konsequent Herausforderungen, um an ihnen zu wachsen, und will sich im Grunde zu höchster existentieller Herausforderung steigern, wenn sie nur käme. Es genügt nicht, sich von den Indexverboten der Amtskirche und deren Verfechtern im Gespräch ausdrücklich zu distanzieren oder etwa die Inhalte und die Praxis der offiziellen (ideologisch enggeführten) Vorlesungen kritisch zu beleuchten und bestimmte neue Erkenntnisse für den Aufbau der eigenen Wertewelt zu benutzen. Es genügt auch nicht, ein möglichst eigenständiges, nur im notwendigen Maß angepaßtes studentisches Privatleben (z.B. mit passenden und motivierenden Freunden) zu führen oder die ausgleichenden Kräfte der Natur ausflugsweise zu erleben. Es mußte, sollte das Jahr in Löwen auf dem Weg der Selbstwerdung nicht (wie nach eigener Wertung die Jugendzeit davor) eine „verlorene Zeit" werden, eine höhere Einwirkung in Gestalt des Zufalls in Anspruch genommen werden, und zwar in zwei Fällen: beim Bestehen des Abschlussexamens und beim Zustandekommen und Bewältigen der „melusinischen" Liebe. Die wichtige Prüfung in Metaphysik konnte er nur durch ein spontanes „teutonisches" Verhalten (in grotesker Komik vorgeführt) und die grandiose Beantwortunmg einer zufälligen Ersatzfrage bestehen. Zweifellos den Höhepunkt beider Romanbände bildet jedoch die raffinierte Schilderung der sexuellen Emanzipation und erotischen Transformation. Sie beginnt und endet mit „Zufällen": Germanistikprofessor Degenkamp setzt den kompetenten Deutsch-Sprecher von St. Vith zufällig in die erste Bankreihe neben „Schwester Agatha", die sich immer mehr als Liebhaberin von Liebeslyrik, lerneifrige Deutschschülerin und rollensichere Schauspielerin entpuppt. Es kommt, wie es kommen muß: Vertrautheit entsteht. Sie erzählt ihm ausführlich ihr Leben (mit dem Unglückstod der Eltern, dem tragischen Tod des geliebten Bruders und ihrer tiefen Depression). Die Villa, in der HeloTse, die studierte Psychologin, wohnt, ist, da Tante Konstanze, ihre zweite Mutter und Äbtissin des Nonnenstifts, diesmal zu Ostern allein ohne ihre Nichte nach Rom fährt, ab Palmsonntag für die sieben „kostbarsten Tage seines Lebens" frei, und Abel, so nennt HeloTse ihren Deutschlehrer (in Vergegenwärtigung ihres Bruders Abelard), erlebt dort im „Paradies" mit ihr zusammen und durch sie die erste große Initiation in das dionysische Leben, die Steigerung, Auslöschung und Wiedergeburt des Ichs im Durchschreiten der Eros-Dimensionen. HeloTse ist die führende „Lehrerin" und Abel(ard) der genau zu ihr passende kreative Liebespartner. Beider bisherige Lebensgeschichten erfüllen sich fulminant im doppelten Kairos ihrer Begegnung. Jeden Schritt des Liebesgeschehens zeichnet der Autor korrekt, anschaulich und treffsicher nach - als eine spezielle Korrespondenzaktion zwischen Körper, Seele und Geist. Der sexuelle Vorgang wird psychologisch so vorbereitet und in den Kontext des Geschehens so eingebettet, daß er sich als totale Erlösung von allen Tabuzwängen verstehen und auch in die beabsichtigte spirituelle Gesamtlinie der Entwicklung beider Figuren als natürlicher Vorgang konsequent einfügen läßt. Auch durch Transponierung auf eine mythische Vergleichsebene gewinnt er Lebensfülle und eine eigene individuelle geistige Signatur. Bei ihrem allerletzten Liebestreffen (am Nachmittag der letzten Vorlesung) fühlen sich beide extrem erregt und entflammt wie (in „homerischem Vergleich" gesagt) Achill und Penthesilea in ihrem innersten Liebesfeuer, und dieses Feuer, von ihnen selbst hereingezogen, durchläuft den ganzen Körper wie die Feuersbrunst das eroberte Troja. Am Ende wird kein Liebesleben zurückbleiben. Troja mußte nach höherem Schicksalswillen im Brand untergehen und auch die dionysische Liebestrance muß ihr vom Schicksal gewolltes eingebranntes Ende finden: Ein grausamer „Zufall" bringt beide noch einmal in der Kirche St. Pieter zusammen. Schwester Agatha muß glauben, Abelard, der lediglich vor seiner Geschichtsprüfung noch göttlichen Beistand erbitten will, habe sein Nichtwiedersehensversprechen gebrochen. Sie stürzt mit dreimaligen „Non"-Schreien hinaus und fällt womöglich in ihre frühere traumatische Depression zurück. Abelard erleidet unter dem Schock und der Schuldlast dieses Vorfalls einen schweren Migräneanfall und einen Nervenzusammenbruch. Er bricht sein Examen ab, flüchtet zu seiner seelischen Rettung aus Löwen und ringt sich gegen den Widerstand des Vaters zu dem Entschluß durch, auch seinen Heimatort zu verlassen und in Freiburg, das ihm Freund Hartmut empfohlen hat, ein neues, in jeder Beziehung freieres Leben zu beginnen. Beim Warten im ersten deutschen Bahnhof hinter der Grenze erscheint ihm plötzlich ein tröstliches Imaginationsbild: HeloTse lächelt und sagt: „Du mußt dich befreien, auch von mir." Ihre Gestalt ist zum Symbol eines weiterführenden inneren Auftrags geworden. Und was bedeutet „fortschreiten" anderes als unterwegs immer genau total das zu sein, was man in jedem Moment zu sein reif ist?

Mit herzlichem Gruß!
Ihr Günter Dietz



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