Krautgarten Forum für junge Literatur Nr. 34 April 1999, Rezensent: Prof. Theo Buck, Universität Aachen

JEAN FIRGES: "DEN ACHERON DURCHQUERT ICH"

Einführung in die Lyrik Paul Celans.

Im selben Jahr. in dem Celans dritte Gedichtsammlung ("Sprachgitter") erschien, 1959, kam auch als erste wissenschaftliche Untersuchung die von Wilhelm Emrich in Köln betreute Dissertation des aus dem ostbelgischen St. Vith stammenden Jean (Johann) Firges unter dem Titel "Die Gestaltungsschichten in der Lyrik Paul Celans ausgehend vom Wortmaterial" heraus. Es ging dabei um die kategoriale Bestimmung des Einzelworts in den beiden ersten Lyrikbänden: "Mohn und Gedächtnis" (1952) und "Von Schwelle zu Schwelle (1955). Der junge Verfasser ergänzte seine produktive Pionierarbeit durch eine wichtige poetische Standortbestimmung. Den Hinweis des Dichters aufgreifend, vertrat Firges die - nicht zuletzt im zeitlichen Kontext der üblen Plagiatsvorwürfe Claire Golls - wichtige, sachlich klärende These, daß die dichterische Arbeit Celans nichts zu tun habe mit dem literarischen Surrealismus und dessen 'ecriture automatique'. Er setzte diese Auffassung sogar seinem anders argumentierenden Doktorvater gegenüber durch.- Danach folgte noch ein kurzer Beitrag in der Zeitschrift 'Muttersprache' unter der Überschrift "Sprache und Sein in der Dichtung Paul Celans" (1962). Dabei blieb es für lange Zeit.

In der Folge widmete sich Firges Themen aus dem Umkreis seiner Tätigkeit als Professor für französische Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Wir verdanken ihm Untersuchungen zu Pascal, Anouilh, Sartre, Teilhard de Chardin sowie zur Landeskunde und Fremdsprachendidaktik. Das Interesse am Werk Paul Celans blieb jedoch die ganze Zeit hindurch wach. jetzt ist als Frucht dieser über vier Jahrzehnte hindurch anhaltenden Beschäftigung mit den Gedichten Celans und der anschwellenden Literatur zu seinem Werk eine zweite längere Arbeit entstanden. Sie ist, wie der Untertitel sagt, als "Einführung in die Lyrik Paul Celans" gedacht.

Ausgehend von der Todeserfahrung Celans (darum der Titel "Den Acheron durchquert ich"), interpretiert Firges rund 80 Gedichte und ordnet sie vier, seiner Ansicht nach prägenden Motivkreisen zu: Reise, Tod, Traum, Melancholie. Er betrachtet sie als "die wichtigsten 'Problem-Zonen' der Lebens- und Leidenserfahrung des Autors" (19). Mit gleichem Recht hätte er allerdings andere organisierende Kraftfelder Im lyrischen Kosmos des Werkzusammenhangs ausmachen können. Denn zweifellos sind Metaphern und Motive wie Auge. Sand, Baum. Schatten. Eis. Kristall. Licht. Liebe oder Sexualität gleichfalls als konstitutiv anzusehen. Ganz zu schweigen davon, daß neben dem

Eingedenken auch Ironie, Sarkasmus, Obszönität. Zynismus und Blasphemie Integrale Bestandteile des Gestaltungsverfahrens sind. Vermutlich wäre es darum besser gewesen. Reise. Traum und Melancholie dem durchgängig vorwaltenden Motiv des Todes zuzuordnen und dessen zentrale Bedeutung damit sachgerecht herauszustellen.

Entscheidend für die Art des hermeneutischen Angangs ist das Eingangskapitel über "Die Dunkelheit der Lyrik Paul Celans und wie man mit ihr umgehen kann" (1119). Dabei setzt der Verfasser zunächst ziemlich unklar an. indem er die Celansche Dunkelheit vorübergehend in die Nähe von "Mystik" (14) und "Rätselstrukturen" (16) rückt, was den Intentionen des Dichters vollkommen zuwiderläuft. Erst die konkrete Textarbeit am Beispiel des Gedichts "Mövenküken" (15-18) bringt Firges dann - in Anlehnung an die einschlägige Sondierung durch Joachim Schulze - auf den methodisch richtigen Weg erhellter 'Dunkelheit'. Mit Recht spricht er hier von "eingehender Interpretation" (18).

Nach einer knappen Situierung der Landschaft, welcher Celan entstammt, der Bukowina (20-22), macht der Verfasser sich daran, in den vier Hauptkapiteln (2362, 63-146. 147-223 und 224-309) das selbstgesteckte Ziel einer "Einführung in die Lyrik Paul Celans" einzulösen. Naturgemäß ist das kein leichter Weg. Der sorgfältig ausgearbeitete Durchgang durch das Werk unter dem Gesichtspunkt der genannten vier Motivkreise ist ersichtlich das Resultat gründlicher Werkkenntnis und breiter Erfassung der Literatur über Celan. Daß Firges sich hierbei vielfach auf die Ergebnisse "der vielen Wissenschaftler" stützt, ..die sich ... um die Deutung der Celanschen Lyrik bemüht haben" (19), ist ein überaus sympathischer Zug. zumal er den jeweiligen Zunftgenossen durchweg fair, ja sogar in aller Regel anerkennend begegnet. Dergestalt gewinnt sein gewagtes Unternehmen eine solide Grundlage, die ihn wiederum befähigt, seinen Lesern wirklich "die Scheu vor der Dunkelheit des Autors zu nehmen" (19).

Die vier Hauptkapitel des Buches gestalten sich zu einer ergiebigen Entdeckungsreise durch das Gesamtwerk Celans. Firges verfährt dabei jeweils diachronisch, so daß der Leser einen weitreichenden Überblick über und insbesondere erhellenden Durchblick durch sämtliche Entwicklungsstufen der Lyrik Celans gewinnen kann. Merkwürdig freilich, warum der Verfasser Klaus Voswinckels überaus einleuchtenden Begriff von der "Entpoetisierung der Welt" als "nicht glücklich

gewählten Terminus" ansieht (29 f.). Die Negativität seines Weltbilds hat ja den Dichter erst dazu gebracht, sein ästhetisches Programm zunehmend der erfahrenen Negativität anzupassen und damit die "poetische Aura der Lyrik" zu verabschieden, also den anfänglich noch wirksamen Einfluß Rilkes und Trakls preiszugeben. Diese Unklarheit gegenüber Entscheidungen Celans für "Hör- und Sehreste und damit für eine skelettierte lyrische Form ist der einzige Bereich des Buches. der mich einigermaßen hungrig und durstig läßt. Denn im Endeffekt erweist sich die Lektüre In vielfacher Hinsicht als überaus anregend und bereichernd. Gleichgültig, ob es sich um die Bedeutung der Mutter für Celans dichterische Anfänge, um Einflüsse Mandelstams oder Heideggers handelt, ob intertextuelle Bezüge oder historische. biologische oder geologische Anspielungen hergeleitet werden. gelingt es Firges vortrefflich, die selbstgesteckte Maxime einzuhalten, "Celan von Innen" (19) her zu begreifen und dementsprechend zu erklären.

Das ist, nimmt man alles in allem, gewiß eine beachtliche Leistung. Zudem aber ist das Buch dann auch noch einfach und klar, aber ebenso sicher und souverän geschrieben. Für den Leser ist das eine überaus angenehme Erfahrung, zumal derlei zur seltenen Qualität geworden ist. Mag man einzelnen Interpretationen nicht in vollem Umfang folgen, sie haben allemal den Vorteil innerer Schlüssigkeit und Konsequenz für sich. Vor allem aber macht Firges dem Leser an keiner Stelle etwas vor, sondern läßt ihn teilhaben am Erkenntnisprozeß seiner Auseinandersetzung mit den Texten. Für die Gedichte Celans ist das von substantieller Bedeutung. Insgesamt ist somit das neue Buch des Celan-Forschers der ersten Stunde ein großer Gewinn für die immer noch ausstehende Verbreitung des Celanschen Werkes über die bisherige Lesergemeinde hinaus. Das Ist weit mehr vonnöten als endlose Weiterungen der ohnehin kaum mehr zu überblickenden Sekundärliteratur zu Celan, die Inzwischen auf über 3000 Titel angewachsen ist. So gesehen verdanken wir Firges einen Schlüsselbeitrag zur Rezeptionsgeschichte des zweifellos schwierigsten Autors der Literatur seit 1945.

Theo Buck



  • Vier Motivkreise der Lyrik Paul Celans: die Reise, der Tod, der Traum, die Melancholie. Stauffenburg Verlag Tübingen 1998


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